Sonntag, 3. August 2014

Theodore Sturgeon



Auf Lesungen werde ich manchmal gefragt, ob ich Vorbilder habe. Die Antwort ist ein klares Nein. Allerdings gibt es Autoren, die mich zu unterschiedlichen Zeiten meines Leben inspiriert und beeinflusst haben. Dazu gehören aus meiner Kindheit Tove Jansson mit ihren Mumin-Büchern (deren Einfluss sich, meiner Meinung nach, sowohl bei den Texten als auch bei den Bildern meines „Schnatzelschnapf!“ nachweisen lässt) und A. A. Milnes Pu, der Bär und aus meiner Jugendzeit Günter Eichs Hörspiele, Friedrich Dürrenmatts Theaterstücke und Science-Fiction-Autoren wie Fredric Brown und Orson Scott Card. Zwei Einflüsse sind allerdings besonders prägend gewesen: zum einen Volksmärchen, zum anderen der Amerikaner Theodore Sturgeon.

Sturgeon galt als der Literat unter den Science-Fiction-Autoren. Was er besonders an der Science Fiction schätzte, war ihre Fähigkeit zu provozieren und die Leser etwas zu lehren. Obwohl er aufgrund verschiedener Tätigkeiten, die er in seinem Leben ausübte, ein profundes Wissen über eine Vielzahl von Themen besaß und dieses – speziell technische – Wissen auch in seinen Geschichten einsetzte, ging es ihm doch immer ausschließlich darum, das Fundament der Menschlichkeit in uns zu erforschen. Liebe und Mitgefühl waren seine Themen, Außenseiter, der nächste Schritt in der Evolution, nicht Raumschiffe oder Zeitmaschinen. Er hat es einmal so definiert: „Eine gute Science-Fiction-Geschichte ist eine Geschichte über Menschen, mit einem menschlichen Problem und einer menschlichen Lösung, die ohne ihren wissenschaftlichen Gehalt nicht zustande gekommen wäre.“ Matthew Davis sagt in seinem E-Fanzine Steam Engine Time über ihn: „Jede seiner Geschichten war ein Versuch, die Welt zu heilen.“

Sturgeons Stärke lag in der kurzen Form. Obwohl er auch einige Romane verfasste, waren es die Kurzgeschichten, über zweihundert an der Zahl, die zu Recht seinen Ruhm begründeten. Einige der Besten seiner Kollegen – Ray Bradbury, Samuel Delany und viele andere – verehrten ihn und seine Kunst, mit Worten umzugehen. Dabei war er kein Vielschreiber, im Gegenteil: Zeit seines Lebens kämpfte er gegen Minderwertigkeitsgefühle und Schreibblockaden an, die ihn oft jahrelang am Schreiben hinderten.

Ich lese ihn gerade wieder und versuche, nach und nach an die dreizehnbändige Gesamtausgabe seiner Kurzgeschichten im englischen Original heranzukommen. Vor allem interessieren mich die Geschichten, die nie ins Deutsche übersetzt wurden, weil ich hoffe, darunter Perlen zu entdecken, die mir wieder den Atem stocken lassen.

Damals, als ich ihn kennenlernte, so etwa um mein achtzehntes Lebensjahr herum, als ich bereits einige Jahre schrieb und wusste, dass ich das Schreiben zu meinem Beruf machen würde, eröffnete er mir eine neue stilistische Welt. Er war jemand, der die Grenzen der Sprache überwinden und das Unsagbare ausdrücken konnte, der in der Lage war, mit Worten einen Raum zu schaffen, in dem man die Menschen in seinen Geschichten bis ins Innerste zu verstehen und ihre Freude, ihre Sorgen, ihren Schmerz zu spüren glaubte. Es beeindruckte mich, wie er die Gefühle seiner Figuren schilderte, ohne sie je beim Namen zu nennen, indem er eine ganze Welt drum herum schrieb und das, was er mitteilen wollte, dadurch behutsam einkreiste, eine Welt aus Andeutungen und Analogien.

Sturgeon veröffentlichte vor allem während der „goldenen Ära“ der Science Fiction, also in den Vierzigern, Fünfzigern und Sechzigern des vorigen Jahrhunderts, und unzweifelhaft sind manche seiner Geschichten gealtert. Obwohl er zu seiner Zeit ein Tabubrecher war, der beispielsweise offen über Sexualität – auch Homosexualität – schrieb, als derlei Dinge, zumal in den USA, verpönt waren, wirken besonders die Liebesbeziehungen und der Umgang der Geschlechter miteinander aus heutiger Sicht oft antiquiert. Und, ja, es gab immer auch das Belanglose, Verkopfte oder Überfrachtete unter seinen Veröffentlichungen.

Aber in Microscosmic God, It oder Yesterday was Monday hat er typische Genrewerke aus den Bereichen Science Fiction, Horror und (humorvolle) Fantasy zur höchsten Vollendung geführt. Und seine besten Geschichten – etwa Extrapolation, The graveyard reader, Brownshoes oder Slow sculpture – zeichnen sich durch einen Grad an Originalität und Menschlichkeit aus, der einzigartig dasteht und beweist, dass seine Werke zur großen Literatur zählen.

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Gunnar