Auf Lesungen werde ich manchmal
gefragt, ob ich Vorbilder habe. Die Antwort ist ein klares Nein. Allerdings
gibt es Autoren, die mich zu unterschiedlichen Zeiten meines Leben inspiriert
und beeinflusst haben. Dazu gehören aus meiner Kindheit Tove Jansson mit ihren
Mumin-Büchern (deren Einfluss sich, meiner Meinung nach, sowohl bei den Texten
als auch bei den Bildern meines „Schnatzelschnapf!“ nachweisen lässt) und A. A.
Milnes Pu, der Bär und aus meiner
Jugendzeit Günter Eichs Hörspiele, Friedrich Dürrenmatts Theaterstücke und
Science-Fiction-Autoren wie Fredric Brown und Orson Scott Card. Zwei Einflüsse
sind allerdings besonders prägend gewesen: zum einen Volksmärchen, zum anderen
der Amerikaner Theodore Sturgeon.
Sturgeon galt als der Literat
unter den Science-Fiction-Autoren. Was er besonders an der Science Fiction
schätzte, war ihre Fähigkeit zu provozieren und die Leser etwas zu lehren.
Obwohl er aufgrund verschiedener Tätigkeiten, die er in seinem Leben ausübte,
ein profundes Wissen über eine Vielzahl von Themen besaß und dieses – speziell
technische – Wissen auch in seinen Geschichten einsetzte, ging es ihm doch
immer ausschließlich darum, das Fundament der Menschlichkeit in uns zu
erforschen. Liebe und Mitgefühl waren seine Themen, Außenseiter, der nächste
Schritt in der Evolution, nicht Raumschiffe oder Zeitmaschinen. Er hat es
einmal so definiert: „Eine gute Science-Fiction-Geschichte ist eine Geschichte
über Menschen, mit einem menschlichen Problem und einer menschlichen Lösung,
die ohne ihren wissenschaftlichen Gehalt nicht zustande gekommen wäre.“ Matthew
Davis sagt in seinem E-Fanzine Steam
Engine Time über ihn: „Jede seiner Geschichten war ein Versuch, die Welt zu
heilen.“
Sturgeons Stärke lag in der
kurzen Form. Obwohl er auch einige Romane verfasste, waren es die
Kurzgeschichten, über zweihundert an der Zahl, die zu Recht seinen Ruhm begründeten.
Einige der Besten seiner Kollegen – Ray Bradbury, Samuel Delany und viele
andere – verehrten ihn und seine Kunst, mit Worten umzugehen. Dabei war er kein
Vielschreiber, im Gegenteil: Zeit seines Lebens kämpfte er gegen
Minderwertigkeitsgefühle und Schreibblockaden an, die ihn oft jahrelang am
Schreiben hinderten.
Ich lese ihn gerade wieder und
versuche, nach und nach an die dreizehnbändige Gesamtausgabe seiner
Kurzgeschichten im englischen Original heranzukommen. Vor allem interessieren
mich die Geschichten, die nie ins Deutsche übersetzt wurden, weil ich hoffe, darunter
Perlen zu entdecken, die mir wieder den Atem stocken lassen.
Damals, als ich ihn kennenlernte,
so etwa um mein achtzehntes Lebensjahr herum, als ich bereits einige Jahre
schrieb und wusste, dass ich das Schreiben zu meinem Beruf machen würde,
eröffnete er mir eine neue stilistische Welt. Er war jemand, der die Grenzen
der Sprache überwinden und das Unsagbare ausdrücken konnte, der in der Lage
war, mit Worten einen Raum zu schaffen, in dem man die Menschen in seinen
Geschichten bis ins Innerste zu verstehen und ihre Freude, ihre Sorgen, ihren
Schmerz zu spüren glaubte. Es beeindruckte mich, wie er die Gefühle seiner
Figuren schilderte, ohne sie je beim Namen zu nennen, indem er eine ganze Welt
drum herum schrieb und das, was er mitteilen wollte, dadurch behutsam
einkreiste, eine Welt aus Andeutungen und Analogien.
Sturgeon veröffentlichte vor
allem während der „goldenen Ära“ der Science Fiction, also in den Vierzigern,
Fünfzigern und Sechzigern des vorigen Jahrhunderts, und unzweifelhaft sind
manche seiner Geschichten gealtert. Obwohl er zu seiner Zeit ein Tabubrecher
war, der beispielsweise offen über Sexualität – auch Homosexualität – schrieb,
als derlei Dinge, zumal in den USA, verpönt waren, wirken besonders die
Liebesbeziehungen und der Umgang der Geschlechter miteinander aus heutiger
Sicht oft antiquiert. Und, ja, es gab immer auch das Belanglose, Verkopfte oder
Überfrachtete unter seinen Veröffentlichungen.
Aber in Microscosmic God, It oder
Yesterday was Monday hat er typische Genrewerke aus den Bereichen Science
Fiction, Horror und (humorvolle) Fantasy zur höchsten Vollendung geführt. Und
seine besten Geschichten – etwa Extrapolation,
The graveyard reader, Brownshoes oder Slow
sculpture – zeichnen sich durch einen Grad an Originalität und
Menschlichkeit aus, der einzigartig dasteht und beweist, dass seine Werke zur
großen Literatur zählen.
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Gunnar